Ich habe lange gezögert hier was zu schreiben. Es ist verdammt lang her, dass ich Studenten an der Uni was über Schraubverbindungen erklärt hab. Die hatten damals dabei schon ganz ordentliche theoretische Vorkenntnisse in Mathematik und Technischer Mechanik, die kann ich hier so nicht voraussetzen. Trotzdem waren es noch zwei Doppelstunden um durch die Berechnung einer Schraubverbindung durchzukommen. Da ging es um die Nachgiebigkeit von Gewinde, Schaft, Kopf und Mutterngewinde, Ersatzquerschnitt, Klemmkraft, Vorspannkraft, Anziehfaktoren, Setzung, statische und dynamische Betriebskraft, alles gipfelt dann in einem Verspannungsdiagramm, bevor man überhaupt zum Anzugsmoment kommt. So kann ich das hier nicht erklären. Und wenn ich bei Adam und Eva anfange werde ich erst recht nicht fertig.
Wer es genau wissen möchte, den kann ich hier nur auf die umfangreiche Fachliteratur zu dem Thema verweisen. Aber so ansatzweise, ohne Formeln und eigentlich eher nur die Schlusszusammenfassung ist hier wohl doch sinnvoll.
Es gibt eine ganze Menge Faktoren, die dabei mitspielen. Zur Berechnung des theoretischen Anzugsmoments braucht man
- die notwendige Vorspannkraft, die wiederum resultiert aus der Geometrie der Schraube und der Belastung der Verbindung
- Flankendurchmesser
- Gewindereibwert
- Steigungswinkel
- Reibwert der Kopfauflage
- Außendurchmesser der Kopfauflage
- Bohrungsdurchmesser
Die notwendige Vorspannkraft und die Abmessungen kennt man ziemlich genau. Sieht man sich die Reibwerte jedoch mal genauer an, dann wird man feststellen, dass da ein gewaltiger Haken sitzt. Eigentlich findet man schon sehr schöne Tabellen, was da einzusetzen ist. Nur dass sind mehr oder weniger theoretische Mittelwerte. Man findet mit etwas mehr Aufwand auch Tabellen, die was zur Streubreite der Reibwert sagen. Teilweise ganz simpel. Stahl auf Stahl ungeschmiert > 0,3. Damit kann man dann gar nichts anfangen. Oder welche, die beidseitige Grenzwerte angeben:
- Normalstahl, gedrehte Oberfläche, unbeschichtet, trocken: 0,45 bis 0,80
- Normalstahl, gedrehte Oberfläche, unbeschichtet, geölt: 0,08 bis 0,16
Das erklärt auch, warum in den einfachen Tabellen immer wieder unterschiedliche Werte auftauchen, für Stahl auf Stahl geölt z.B. 0,10 oder 0,12. Die tatsächliche Streuung ist so gross, dass es schon bei diesem einen Faktor auf 20 % gar nicht ankommt. Man arbeitet hier eh mit einer Unsicherheit von rund plus/minus 50%. Und die schlägt auch noch zweimal zu, einmal im Gewinde, einmal in der Kopfauflage. Da der Zusammenhang zwischen den beiden Stellen nur teilweise zufällig, teilweise auch systematisch ist, addieren sich die beiden Toleranzen nicht ganz, in Summe sind es "nur" so rund 70%.
Selbst mit dem bekommt man dann nur ein theoretisches Anzugsmoment. Jetzt kommt nämlich, bei der letzten Rechnung noch ein empirischer Faktor drauf, um zum praktischen Anzugsmoment zu kommen. Ich schreib einfach mal die Tabelle rein, aus der der Wert kommt.
- Mechanische Längenmessung 1,1 bis 1,5
- Streckgrenzen~ oder drehwinkelgesteuertes Anziehen: 1,2 bis 1,4
- Hydraulische Anziehen: 1,2 bis 1,6
- Drehmomentschlüssel: 1,4 bis 1,6
- Drehschrauber: 1,7 bis 2,5
- Impulsgesteuertes Anziehen mit Schlagschrauber: 2,5 bis 4,0
Mit diesen Faktoren multipliziert man das berechnete theoretische Anzugsmoment. Besonders beim Schrauber kommt da noch mal eine Toleranz dazu die mindestens eben so gross ist wie die bei der Reibung. Man landet also am Ende für so eine Verschraubung wie die bei Radmuttern oder Stehbolzen bei etwas, das eine Toleranz von rund Faktor 2 hat!
Das sollte man wissen, wenn man zwei "etwas" unterschiedliche Empfehlungen fürs Anzugsmoment am Drehmomentschlüssel diskutiert.
Das Ganze funktioniert eigentlich in der Praxis trotzdem, weil es mindestens 4, normalerweis 5 Schraubverbindungen an einem Rad sind. Das nennt man mehrfache Redundanz. Die Zentralverschraubung wie bei Rennrädern ist nicht ohne Grund für den Strassenverkehr
nicht zugelassen.